Zur Defensive der politischen Linken und Möglichkeiten ihrer Überwindung
Christoph Spehr
Die Situation der Kräfte auf der linken Seite des politischen Spektrums ist derzeit nicht rosig. Politische Mehrheiten für die Bundestagswahl 2025 sind nicht in Sicht, nicht einmal für eine Fortsetzung der Ampelkoalition reicht es. SPD, Grüne und Linke kommen in Umfragen zusammen auf etwa ein Drittel der Stimmen, CDU/CSU und FDP ebenfalls, ein weiteres Drittel teilt sich die AfD mit BSW, FW und Sonstigen. Nicht unwahrscheinlich wäre zum heutigen Stand das Szenario eines CDU-dominierten 4-Parteien-Bundestags, wo die CDU mit jeder der drei anderen Fraktionen (SPD, Grüne, AfD) eine Mehrheit hätte. Nach den derzeitigen Umfragen gibt es nur 4 Bundesländer (Berlin, Bremen, Hamburg, Saarland), wo CDU und AfD nicht auf mindestens 45 Prozent und damit eine parlamentarische Mehrheit kämen, wenn Sonntag gewählt würde.
Kann die politische Linke noch gewinnen? Aber umgekehrt lässt sich auch fragen: Versucht sie es denn? Kämpft sie ernsthaft, engagiert und zupackend um die Hegemonie in der gesellschaftlichen Debatte? Hier liegt das Problem.
Die Rechte kämpft, die Linke zögert
Die Umfragen sind der Spiegel einer weitgehenden Defensive in der gesellschaftlichen Debatte. Die Diagnose „Rechtsruck“ beschwört dabei mehr als sie erklärt. Insbesondere gehört zur Lage, dass die reale politische Entwicklung der letzten Jahre eher von einer Verschiebung hin zu progressiven Inhalten gekennzeichnet ist. Es gibt mehr Klimaschutzgesetze als vor ein paar Jahren, eine Besserstellung beim Bürgergeld, eine Lockerung des Schuldenregimes in der EU, diverse Reformen auf dem Feld der sexuellen Selbstbestimmung, relativ hohe Zuwanderungszahlen, Tarifabschlüsse oberhalb der aktuellen Inflationsrate, schuldenfinanzierte Krisenbekämpfung und erheblich mehr staatliche Intervention in die Investitionstätigkeit. Das ist alles recht zaghaft und bei weitem nicht ausreichend, aber dass sich auf der Ebene der gesetzlichen Maßnahmen und realen Veränderungen das Rad beständig nach rechts dreht, lässt sich bislang nicht ohne Weiteres behaupten. Es ist eher die Sorge um eine sich auftürmenden Welle von Backlash, die das Gefühl des Rechtsrucks ausmacht; die Feststellung, dass in einigen sozio-geografischen Lagen (neue Bundesländer, ländliche Regionen, geringverdienende oder abstiegsbedrohte Schichten) der Rechtsruck bereits zu massiven hegemonialen Verschiebungen geführt hat; und dass die Rechte sich darauf vorbereitet, im Falle einer Regierungsübernahme das politische System irreversibel zu verändern.
Die gesellschaftliche und politische Linke verliert die Auseinandersetzung um die Hegemonie nicht in offener Feldschlacht. Sie geht nicht mit fliegenden Fahnen unter, sondern zögert, das Spielfeld überhaupt zu betreten. Die Rechte kämpft derzeit besser, weil es nur die rechte Seite ist, die offensiv kämpft. Vor allem kämpft sie dort, wo die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen laufen, wo zentrale Weichenstellungen, Herausforderungen und die Positionierung dazu verhandelt werden: Migration, Arbeitsmarkt, Wirtschaftspolitik, Transformation, sozialer Zusammenhalt. Die Rechte bearbeitet mit hoher Energie die Frage, wie eine „alte“ Industriegesellschaft in der heutigen Welt ihren Wohlstand erhalten, ihre Position verteidigen und soziale Überforderung vermeiden soll. Die Linke verliert diese Auseinandersetzungen nicht, weil sie in offener Feldschlacht unterliegt, sondern weil sie, wie seinerzeit Fischer in der zweiten WM-Partie gegen Spasski 1972, erst gar nicht am Brett erscheint.
Schwierigkeiten mit dem politischen Kompass
Die Ursachen liegen in den langfristigen Veränderungen im politischen Koordinatensystem, die in den letzten Jahren unübersehbar geworden sind. Die Rechte hat sich voll auf diese veränderten Koordinaten eingestellt und die Verschiebungen der Auseinandersetzung offensiv nachvollzogen. Die Linke tut das bislang nicht. Ohne dass sich die Linke ihrerseits an die Veränderungen im politischen Koordinatensystem anpasst, kann sie nicht aus der Defensive herauskommen. Anders gesagt: Die Linke kann ihren politischen Kompass nur wiederfinden, indem sie ihn an der veränderten gesellschaftlichen Arena neu eicht.
Der politische Kompass, die Orientierung im Links-Rechts-Schema, wird üblicherweise entlang von zwei Achsen vermessen: Der sozio-ökonomischen Achse (horizontal) und der sozio-kulturellen Achse (vertikal). Beide betreffen das Verhältnis zu Gleichheit und Ungleichheit, aber in unterschiedlicher Weise. Auf der sozio-ökonomischen Achse bewegen sich die politischen Positionen zwischen den Polen (intervenierender) Staat versus (freier) Markt, auf der sozio-kulturellen Achse zwischen den Polen liberale Werte versus autoritäre Werte. Was das genau bedeutet, ändert sich allerdings mit der Situation – mit den Rahmenbedingungen und Herausforderungen, denen die Gesellschaft gegenübersteht, und entlang der Hauptauseinandersetzungen, die in der Gesellschaft geführt werden.
Gleichzeitig gibt es das Links-Rechts-Schema mit den beiden Achsen gewissermaßen zweimal, nämlich innenpolitisch und außenpolitisch. Zum einen geht es um die Gestaltung der eigenen nationalen (oder regionalen) Gesellschaft, zum anderen um die nationale (oder regionale) Strategie gegenüber allen anderen, d.h. die Gestaltung der „Weltinnenpolitik“.
Das außenpolitische Links-Rechts-Schema: alt und neu
In Bezug auf die „Weltinnenpolitik“ sind die Veränderungen unmittelbar augenfällig. In der „alten Zeit“, die in den 1990er Jahren endete, hieß links oder rechts: Entspannung oder Konfrontation (vertikale Achse) und nationale Souveränität oder Freihandel (horizontale Achse). Das war schlüssig in einer Welt, die bestimmt war von einer bipolaren Welt mit einem dominanten Ost-West-Gegensatz, sowie von einer eindeutigen Abhängigkeit des Globalen Südens gegenüber den Industriestaaten des Globalen Nordens. Tauben und Falken, Befreiungsbewegungen und imperiales Vormachtstreben ordneten sich darin ein.
Seither hat sich das Raster fundamental verändert, weil sich die Rahmenbedingungen verändert haben. Die bipolare Welt des Kalten Krieges, in der die Gefahr eines Dritten Weltkriegs vom Grundkonflikt zwischen USA und Sowjetunion ausging, ist verschwunden. Ehemalige Entwicklungs- und Schwellenländer haben sich von einseitiger Abhängigkeit emanzipiert und sind zu ökonomischen und politischen Großmächten geworden. Die „neue Zeit“ ist bestimmt von einer Welt unsicherer Polarität, in der es zwei Großmächte in erster Reihe (USA und China) und eine Reihe von Großmächten in zweiter Reihe gibt (aufsteigende Mächte wie Indien, Brasilien, Indonesien oder Südafrika, und absteigende Mächte wie Russland und der Iran). Unter den Bedingungen einer realen Globalisierung der Produktion setzen alle ökonomischen Entwicklungsstrategien den Zugang zum Weltmarkt voraus. Industriell weniger stark entwickelte Länder können auf fast allen Stufen der Wertschöpfung ihre niedrigen Produktionskosten in die Waagschale werfen, industriell stärker entwickelte Länder befinden sich in einer innovationsgetriebenen Konkurrenz.
In der neuen, multipolaren Welt gibt es vielfache Konfliktherde: Regionale (post- oder neokoloniale) Vormachtansprüche der alten und der neuen „größeren Mächte“; nicht-staatliche oder quasi-staatliche Akteure, die das Vakuum ausfüllen, das in Zonen des Staatsverfalls auftritt; wirtschaftsstrategisch motivierte Konflikte; neue Imperialismen auf- und absteigender Mächte. Die zentrale ökonomische Herausforderung, an der sich die Geister scheiden, ist nicht mehr das Verhältnis zum Weltmarkt, sondern die Haltung zur Transformation von der fossilen Wirtschaft zu einer klimaneutralen Wirtschaft.
Infolgedessen ordnet sich das Links-Rechts-Schema neu. Links oder rechts heißt in der „neuen Zeit“: Kooperation oder Nationalismus (vertikale Achse) und Klimatransformation oder fossile Produktions- und Lebensweise (horizontale Achse). Die Rechte kämpft für den nationalen Egoismus: „America first“, „Prima l’Italia e gli italiani“, „Unser Land zuerst“, gegen die EU, gegen die UNO und gegen eine vom Völkerrecht bestimmte globale Ordnung. Sie kämpft dafür, den Abschied von der fossilen Produktionsweise so lange wie möglich hinauszuschieben und hält es für vorteilhaft, sich später als andere zu bewegen.
Umgekehrt müsste die Linke für globale und transnationale Kooperation kämpfen, für die Stärkung der UNO und des Völkerrechts und für eine vertiefte regionale Integration in der EU und zwischen der EU und ihren nordafrikanischen und osteuropäischen Nachbarn. Sie müsste dafür kämpfen, die ökonomisch-ökologische Transformation schneller zu vollziehen, und den nationalen Vorteil darin sehen, an der Spitze dieser Veränderung zu stehen.
Während die Recht mit Feuereifer bei der Sache ist, hat die Linke jedoch Schwierigkeiten, die Veränderung des Koordinatensystems mitzugehen. Wer sich nicht bewegt, gerät dabei leicht auf die falsche Seite. Dann führt die mechanische Orientierung an „Entspannung“ über das Beschwören von „Eskalationsgefahr“ zur Politik der „Nichteinmischung“ und des „Einfrierens“, und damit zu einer Art Appeasement-Politik und zur faktischen Unterstützung von neuen, aggressiv auftretenden Imperialismen und Konfrontationsstrategien. Die alte Orientierung an der „nationalen Souveränität“ führt leicht zur Auffassung, es sei quasi ein Selbstverteidigungsrecht, das Verharren in der Fossilwirtschaft und seinen Ressourcengeschäften mit militärischen Mitteln abzusichern, und zur Stilisierung eines diktatorischen Sozialimperialismus zur phantasierten Achse des „Widerstands“. All das ist aber, in der „neuen Welt“, rechte Außenpolitik.
Das innenpolitische Links-Rechts-Schema: alt und neu
Dasselbe passiert mit dem innenpolitischen Koordinatensystem. Hier machte sich in der „alten Zeit“ das Links-Rechts-Schema an der vertikalen Frontstellung fest: Individuelle Freiheitsrechte versus Ordnungspolitik, Laissez-faire-Politik versus staatliche Repression. Auf der horizontalen Achse hieß das Links-Rechts-Schema: (soziale) Umverteilung versus Profit, (wirtschaftliche) Regulierung versus Deregulierung. Linke waren gesellschaftlich für „weniger Staat“, sozial und wirtschaftlich für „mehr Staat“; Rechte wollten es umgekehrt.
Das Koordinatensystem der „alten Zeit“ war Ausdruck einer Situation, die von der Nachkriegsordnung geprägt war: Kontinuität autoritärer und teilweise faschistischer Machtapparate; Unterdrückung gesellschaftlicher Veränderung und sozialer Liberalisierung durch staatliche Repression; Nationalstaat als bestimmender wirtschaftspolitischer Rahmen; eindeutig national strukturierte Investitions- und Arbeitsmärkte; „FDGO“ als Verewigung der privatkapitalistisch-bürgerlichen Ordnung; absolut gesicherte, quasi-koloniale Position der alten Industriestaaten im weltwirtschaftlichen Kontext.
Es gab auch damals Ausnahmen, die nicht zu dieser Weltsicht passten: Etwa als 1957 die US-Regierung Bundestruppen einsetzte, um afroamerikanische Schüler auf dem Weg zur Highschool zu eskortieren; oder als 1962 die Institutionen des bundesdeutschen Rechtsstaats dafür sorgten, dass der Journalist Augstein im Amt blieb und der Verteidigungsminister Strauß nicht. Auch dass im Zuge der Globalisierung Gewerkschaften sich in vielen Betrieben zunehmend damit beschäftigten mussten, wo der Profit herkam, den sie verteilten wollten, fügte sich nicht so recht in das überkommene Schema. Aber im Großen und Ganzen führte das Koordinatensystem Linke wie Rechte einigermaßen zuverlässig bis weit in die Ära des Neoliberalismus.
Langsam unterspült und ausgehöhlt, ist das alte Schema in den Krisen der letzten Jahre weitgehend zusammengebrochen. Die Globalisierung ist voll angekommen und stellt die Gesellschaft vor zugespitzte wirtschaftliche, ökologische und demografische Herausforderungen. Gleichzeitig haben die Krisen der letzten Jahre auch die Koordinaten der sozio-kulturellen Auseinandersetzung umgewälzt.
Es war in der Corona-Pandemie und in der Auseinandersetzung um die Klima-Transformation die Rechte, die gegen den übergriffigen Staat mobilisierte. Die Rechte hat die Identitätspolitik für sich entdeckt: Sie verteidigt vehement die Lebensweise und Weltsicht einer irgendwie „normaleren“, traditionelleren, veränderungsskeptischen Gruppe, und sie beansprucht die volle Definitionsmacht darüber, wer zu dieser Gruppe gehört und was für sie eine inakzeptable Zumutung ist. Die Rechte bestreitet die Legitimität der demokratischen Institutionen im Namen einer Volonté générale, d.h. einer Volksmeinung, die in den Institutionen nicht ausgedrückt wird, aber die eigentliche Rechtsquelle ist und die auf eine homogenisierte, nicht-plurale Gesellschaft zielt.
Eine alte Industriegesellschaft steht vor der Wahl, ihren Arbeitskräftebedarf durch einen inklusiven, offenen Arbeitsmarkt zu decken oder durch eine exklusive, repressive Arbeitsgesellschaft. Sie muss entweder darauf setzen, die Zahl der Arbeitskräfte durch Zuwanderung, Vereinbarkeit, Gleichstellung und Durchlässigkeit zu sichern – was starke Integrationssysteme erfordert und Absicherungen wie Mindestlohn, Tarifbindung und gesetzlich verankerte Gleichwertigkeit von Bezahlung. Oder sie kann darauf setzen, die Zahl der Arbeitsstunden pro Arbeitskraft zu erhöhen (durch längere Lebensarbeitszeit, Mehrarbeit, Überstunden und Druck) und Arbeitsleistung verstärkt zu importieren (durch radikale Terziarisierung, starke Währung und unfaire Terms-of-Trade).
Die Rechte leugnet den Klimawandel überwiegend nicht mehr, verweist aber mit einigem Recht darauf, dass – Moral beiseite – die unmittelbare Konsequenz für Nationalstaaten in Klimaanpassung besteht (d.h. in Vorbereitung auf die Folgen) und nicht unbedingt in Klimaschutz (d.h. einem Beitrag zur CO2-Verringerung). Mit Ausnahme von China hat kein einzelner Staat die Chance, durch sein Verhalten direkt den globalen CO2-Ausstoß substanziell zu verringern. Man muss an die Potenziale internationaler Kooperation glauben oder an die perspektivische Unabweisbarkeit der Defossilierung (was die Rechte beides nicht tut), um aktiven Klimaschutz als Politik im eigenen nationalen Interesse zu begreifen.
Die Rechte lehnt die „missionsorientierte“ Wirtschaftspolitik ab, die durch politische Steuerung die Investitionen zielgerichtet lenken will, um die Transformation zu einer klimaneutralen, innovationsorientierten und krisenresilienten Produktions- und Lebensweise zu beschleunigen und um Technologieführerschaft zu konkurrieren. Stattdessen will sie Wachstum und Wertschöpfung durch unspezifische, allgemeine Entlastung der Unternehmen erreichen. Bei der Forderung nach billigem Gas und Öl schließt sich der Kreis zum außenpolitischen Koordinatensystem, in der Position „die Sanktionen gegen Russland schaden vor allem uns selbst“.
Die Rechte hat das neue Koordinatensystem verinnerlicht. Deshalb ist die Rechte gegen Migration, Bürgergeld und höheren Mindestlohn, deshalb kämpft sie für die Schuldenbremse, den Meisterbrief und das durchgängige Gymnasium. Deshalb ist sie gegen strategische Investitionsförderung und für allgemeine Energiesubvention, „Technologieoffenheit“ und Steuersenkungen.
Es kommt nicht darauf an, ob jedem Einzelnen der Zusammenhang der einzelnen Elemente klar ist. Fakt ist, dass die Rechte ein Programm verfolgt, das einer gewissen Logik und Kohärenz folgt. Es bringt innen- und außenpolitische Orientierung zusammen, und die Rechte arbeitet daran, einen hegemonialen Block zusammenzubringen, der dieses Programm durchsetzen kann.
Die Schwäche der Linken
An sich ist die Aufgabe damit klar. Die gesellschaftliche und politische Linke muss den Fehdehandschuh aufnehmen und für das Gegenprogramm zur Rechten werben. Etwa entlang der Linien: Wir brauchen mehr Zuwanderung, nicht weniger. Dafür müssen wir unsere Bildungs- und Arbeitsmarktsysteme zuwanderungsfest machen, und dafür brauchen wir Kooperationsvereinbarungen mit den Herkunftsländern (statt Abschottungsverträge mit den Durchgangsländern), denn diese haben das umgekehrte demografische Problem. Wir müssen politisch entscheiden, in welche strategisch wichtigen Bausteine der Transformation investiert werden soll, denn eine Strategie des technologischen Trittbrettfahrens kann für aufholende Industrieländer erfolgreich sein, aber nicht für entwickelte Industriestaaten. Die Kosten der Transformation können fair verteilt werden, wenn öffentliche Investitionen in Infrastruktur oder lenkende Wirtschaftsförderung kreditfinanziert erfolgen. Staatlich finanzierte Kostensenkungen ohne Lenkungswirkung können wir uns ebenso wenig leisten wie Steuersenkungen oder die Schuldenbremse. Es geht nicht darum, Arbeitszeiten für immer weniger Vollzeitbeschäftigte auszudehnen, sondern den Familien und Haushalten mehr gleichberechtigte Erwerbsteilnahme zu ermöglichen, durch Vereinbarkeit und Flexibilität, bessere Kinderbetreuung, ein sozial gerechteres Bildungssystem, bezahlte Ausbildung und Weiterqualifikation sowie gesetzliche Standards zur gleichen Bezahlung gleichwertiger Tätigkeiten.
Die Strukturen der institutionellen Demokratie müssen robust verteidigt werden. Gefühlte Mehrheiten ersetzen keine Legitimation durch parlamentarische Mehrheiten. Niemand hat das Recht auf unbegrenzte Identitätspolitik auf Kosten anderer. Alle sozialen Gruppen haben das Recht auf „Normalität“, d.h. auf Anerkennung und fairen Zugang zu gesellschaftlichen Entscheidungen und Ressourcen.
So weit, so logisch. Ganz offensichtlich passiert das aber nicht. Die Linke ist fundamental unsicher, ein solches Programm offensiv zu vertreten und hegemoniefähig zu machen. Am ehesten noch zeigen die Grünen eine Bereitschaft, sich auf die veränderten Koordinaten einzustellen, zumindest an der Bundesspitze. Konsequenterweise sind sie auch das Ziel der besonders zugespitzten Hasskampagnen von rechts. In den Ländern und an der Basis dominiert auch bei den Grünen eher eine Haltung, die sich aus grüner Identitätspolitik und moralischer Kritik an der Rechten speist und ein gewisses Desinteresse an den Tag legt, wenn es um die faire Verteilung der Kosten der Transformation geht. Aber als Bundespartei sind sie am ehesten bereit, die notwendigen gesellschaftlichen Diskussionen zu führen.
Anders sieht es bei SPD und Linkspartei aus. Die SPD verabschiedet sich nur sehr schwer von den wirtschaftsliberalen und isolationistischen Positionen der Schröder-Müntefering-Ära. Olaf Scholz, 2002-2004 Generalsekretär unter Schröder, und Frank-Walter Steinmeier, 1999-2005 Chef des Kanzleramts unter Schröder, verkörpern die personelle Kontinuität dieser Ära am deutlichsten. Dass in der Energiekrise Gaslieferanten verstaatlicht und Preisbremsen eingeführt wurden, geht auf Habeck und das BMWK zurück, nicht auf die SPD. Außenpolitisch kommt die SPD sowohl in der Breite der Partei wie im Kanzleramt nicht los von der Weltsicht der alten Zeit, der strategischen Partnerschaft mit Russland, dem Verständnis für dessen „besondere Sicherheitsinteressen“ und einer passiven Außenpolitik als Garant guter Exportgeschäfte. Innenpolitisch ist die SPD weder bereit noch in der Lage, die Anti-Zuwanderungs-Agitation der Rechten zu konfrontieren. Ihr vages Hofieren der „hart arbeitenden Menschen“ bewegt sich gefährlich nahe an der ausschließenden rechten Identitätspolitik der „Normalen“, und sicherlich nicht an der Frontlinie eines veränderten, inklusiven Arbeitsbegriffs.
Die Linkspartei ist fast zerbrochen unter der Anstrengung, sich gegen die Bestrebungen zu wehren, vor dem veränderten Zeitgeist zu kapitulieren und wesentliche Teile der neuen Erzählung von rechts zu übernehmen. Die acht Jahre dauernde Auseinandersetzung begann in der Migrationskrise 2015/16, setzte sich fort unter dem Eindruck der rechtspopulistischen Mobilisierung 2016/18 (Brexit, Trump, AfD, Gelbwesten), und eskalierte in den Krisen 2020-2023 (Corona-Pandemie, Ukrainekrieg, Energiekrise). Sie spaltete jede der ursprünglich bestimmenden vier innerparteilichen Strömungen und letztlich auch die Bundestagsfraktion. Die Abspaltung des BSW hat diese selbstzerstörerische Phase beendet, aber nicht die Probleme der Neueinstellung. Angesichts der Verunsicherung in der Wähler*innenschaft versucht die Linkspartei, sich thematisch zunächst auf „sicherem“ Terrain zu bewegen, muss gleichzeitig aber die versäumte Zeit bei der programmatischen Weiterentwicklung erst noch aufholen.
Die Parteien sind nicht allein bei der Überforderung, mit dem veränderten Koordinatensystem klarzukommen. Die Friedensbewegung ist gespalten bis zur Handlungsunfähigkeit. Die Klimabewegung tut sich schwer damit, nach dem Erfolg, das Thema Klimakrise unübersehbar auf die politische Agenda gehoben zu haben, ihre Aufgabe zu definieren, und leidet an außenpolitischen Spaltungen. Die Fluchtsolidarität hadert mit der Idee, eine echte Zuwanderungsdebatte zu führen. Die Anti-Rechts-Bewegung, die aus dem Stand die größten Massendemonstrationen seit langem auf die Straße gebracht hat, ist noch weit von einer Formierung oder zentralen Forderungen entfernt. Die Gewerkschaften erzielen zuletzt wieder beachtliche Arbeitskampferfolge und justieren sich sichtbar neu im Koordinatensystem (Arbeitszeitverkürzung, Sockelbeträge, Sondertarifverträge zu Transformation oder Digitalisierung), nehmen politisch aber bislang nicht wirklich eine treibende Rolle ein und leiden unter Hegemonieverlusten auf der betrieblichen Ebene. Alle Kräfte links der Mitte haben es grade nicht leicht.
Nicht mehr mit rechten Erzählungen kollaborieren
Die Schwerfälligkeit, mit der sich die politische Linke in der Neuordnung der politischen Koordinaten bewegt, hängt auch mit schwerwiegenden Fehlern zusammen, die in der Vergangenheit begangen wurden. Teile der politischen Linken haben nie zu einem geklärten Verhältnis zur institutionellen Demokratie und der Notwendigkeit gefunden, eine demokratische Verfassung aus prinzipiellen Gründen zu verteidigen. Die stickige Sehnsucht nach einer im eigenen Sinn homogenisierten Gesellschaft ist der Linken keineswegs fremd. Die Volonté générale war eine linke Erfindung, die man nach Durchsetzung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts hätte verabschieden müssen. Stattdessen wurde sie immer wieder aufgewärmt, legitimiert wahlweise mit Medienschelte oder mit den Bestechungsqualitäten demokratischer Institutionen. Eine unauffällige, weil wenig militante Delegitimierung parlamentarischer Strukturen, demokratischer Institutionen und staatlich verfasster Politik greift auch in akademisch-bewegungsorientierten Zusammenhängen um sich, wo die Rechte eher aus kulturellen Gründen abgelehnt wird als wegen ihrer Demokratiefeindschaft.
Auf der sozio-ökonomischen Achse fällt der Abschied schwer von einer hoch moralisierten Kapitalismuskritik, die sich am neuen Adel der „Superreichen“ abarbeitet, aber sich keine Debatte um Investitionslenkung und wirtschaftliche Rahmenplanung zutraut, oder die ein Denken in fortschrittlichen und reaktionären Kapitalfraktionen durch die Satanisierung von „Großkonzernen“ ersetzt. Die Linke hat immer mit der Neigung zu kämpfen, fehlende Beschäftigung mit Wirtschaftspolitik und den realen Bewegungstendenzen des aktuellen Kapitalismus durch übersteuerte Sprache, Forderungsradikalismus und personalisierten „Gegnerbezug“ zu überspielen; in der Phase notwendiger Neuorientierungen ist diese Neigung besonders hinderlich. Dass eine bestimmte Form von Antiimperialismus völlig unbrauchbar geworden ist, ist hinlänglich beschrieben worden.
Dringend notwendig ist es, sich von bisherigen Anleihen bei Antiamerikanismus und Antisozialismus zu trennen. Antiamerikanismus ist eine Form von Kapitalismuskritik, die den Kapitalismus weniger für strukturelle Ausbeutung, Entfremdung und volkswirtschaftliche Irrationalität verantwortlich macht als für die liberale Moderne, die industrielle Massengesellschaft und die Abstraktheit der gesellschaftlichen Beziehungen. Antisozialismus ist eine Haltung, die der politischen Linken pauschal vorwirft, einzig am skrupellosen Erhalt eigener Macht und eigener Privilegien interessiert zu sein, und willentlich gesellschaftlicher Freiheit, soziale Werte und die Lebensgrundlagen der arbeitenden Bevölkerung zu zerstören. Beide zusammen bilden jene Form des politischen Unbewussten, die das rechte Feld zusammenhält und ein Stück weit gegen innere Widersprüche und Kritik in der Sache immunisiert. Beide spitzen sich zu im Vorwurf des Landesverrats und des Klassenverrats, die den emotionalen Treibstoff für entsprechende Hasskampagnen liefern.
Wiederum sind das schärfste Feindbild von rechts aktuell die Grünen, weil sie im neuen Koordinatensystem derzeit der positionierteste Gegner sind. Aber gemeint ist das gesamte Feld links der Mitte. Nicht von ungefähr hallt in der Etikettierung als „gefährlichste Partei Deutschlands“ die gesamte antisozialistische Agitation nach, von Benedikt XV. Verurteilung des Sozialismus als Erzfeind gemeinschaftlicher Werte und der „arbeitenden Menschen“ bis zu den „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ im Sozialistengesetz.
Solche lange gewachsenen und leicht abrufbaren Haltungen kann man von links nicht umlenken, man muss sie auflösen. Dass eine bestimmte Form linker Kritik sehr lange mit genau diesen politischen Emotionen gespielt hat, muss aufhören. Ob es mit solchen Vorwürfen gerade gegen die Grünen, die Linkspartei oder die SPD geht, ist unterm Strich egal. Man sitzt – bei allen Differenzen – gemeinsam auf demselben Ast.
Wo es besonders hart ist
Die Situation im Kampf um die gesellschaftliche Hegemonie, um die Positionierung entlang der kritischen Weichenstellungen im Links-Rechts-Koordinatensystem, ist lokal sehr verschieden. Die Linke ist nicht überall in der Defensive. In großstädtischen Milieus und fachlich bestimmten gesellschaftlichen Diskussionen ist sie trotz ihrer beschriebenen Probleme in der Vorhand. Immerhin sechs Bundesländer werden derzeit, in unterschiedlichen Kombinationen, nur von SPD, Grünen und Linkspartei regiert. Nur ein Bundesland (Bayern) wird ausschließlich rechts der Mitte regiert, und es ist nicht absehbar, dass sich das in naher Zukunft ändert. Es ist noch nicht zu spät, aber in Teilen der Gesellschaft wird es lange dauern, fortschrittliche Antworten auf die gesellschaftlichen Probleme führend zu machen.
Am meisten Boden verliert die gesellschaftliche und politische Linke derzeit in den neuen Bundesländern, in ländlichen Regionen, und unter geringverdienenden oder abstiegsbedrohten Gruppen. In Sachsen und Sachsen-Anhalt liegen SPD, Grüne und Linke in Umfragen zusammen unter 20 Prozent, in Bayern knapp oberhalb von 20 Prozent.
Es ist kein Zufall, dass die Rechte in den benannten sozial-geografischen Lagen besonders auf dem Vormarsch ist. Mögliche Gründe seien zumindest kurz angerissen. Ein verbindendes Muster scheint in der Kombination von drei Faktoren zu liegen: Eine selbst erlebte historische Erfahrung von Umbruch, die ein traumatisches Verhältnis zu Veränderung bedingt und mit einer kollektiven narzistischen Kränkung einherging. Eine vorausgegangene, längerfristige gesellschaftliche Prägung, bei der autoritär-patriarchale Kulturen und eine mehr oder weniger zwangsweise verordnete Identität eine Rolle spielten, denen aber der Boden entzogen wurde. Und eine aktuelle Situation, die von erheblicher persönlicher Verletzbarkeit bestimmt ist, bedingt durch geringe eigene Ressourcen, einer unsicheren Position auf dem Arbeitsmarkt und Abwertungen des gruppenbezogen sozialen und kulturellen Kapitals.
Das ist alles kein Automatismus. Es ist keine Beschreibung einzelner Individuen oder Teilgruppen. Letztlich entscheiden Menschen aktiv über ihre Weltsicht und politische Position; die individuellen Lagen und Prägungen sind sehr viel komplizierter; niemand ist verdammt, rechte Weltsichten zu übernehmen oder zu produzieren. Aber die Möglichkeit dazu scheint unterschiedlich nahezuliegen, und das Zusammentreffen der drei genannten Faktoren mag zur Erklärung beitragen, warum es nicht überall in gleicher Weise passiert.
Was hilft und was nicht hilft
Es gibt viele linke Euphemismen für „Wir wissen auch nicht, was man machen soll“, von „Der Kapitalismus ist eben so“ bis „Wir haben es ja immer gesagt“. Das hilft alles nichts. Irgendjemand muss anfangen, den Kampf um die verlorengegangene Hegemonie aufzunehmen, und das wird nur entlang der beschriebenen Gegenpositionierungen gehen. Mit liebgewordenen Sicherheiten und einem Verharren in einem überholten Koordinatensystem geht es sicher nicht.
Es gibt jenseits der inhaltlichen Seite, also der Aufgabe, den eigenen politischen Kompass zügig nachzujustieren, auch die Seite von Tonalität und Beziehung, und nicht zuletzt die Perspektive, die „Risikofaktoren“ für rechte Hegemonie zurückzudrängen. Das soll hier nicht vergessen werden.
Alle Erfahrung besagt, dass gesellschaftliche Spaltung der Rechten nützt. Es hilft nichts, auf die Parole „Wir hassen die liberale, plurale Gesellschaft“ mit der Parole zu antworten: „Und wir hassen euch“. Man kann nicht mit dem FLINTA-Plenum gegen das imaginäre rechte FANTA-Plenum kämpfen (die Gemeinschaft aller, die noch Fleisch essen, Auto fahren, mit ihrem natürlichen Geschlecht übereinstimmen, in traditioneller familiärer Arbeitsteilung leben und von Veränderungen abgegessen sind). So schwer es sein mag: Man muss der Rechten anders gegenübertreten, als die Rechte selbst auftritt.
Es hilft nichts, traumatische historische Erfahrungen zu verstärken oder unkritisch zu übernehmen. Man muss sie zulassen, gegebenenfalls relativieren, die Konsequenzen bestreiten, auf jeden Fall darüber reden. Es hilft nichts, an autoritär-patriarchale Prägungen anzuknüpfen oder verlorene Identitäten künstlich wieder herbeireden zu wollen. Man muss darauf hinweisen, dass sie so toll nicht waren, und alternative Erfahrungen anbieten. Und es hilft nichts, Menschen und Gruppen, die sehr schlecht mit privaten Ressourcen für Umbruchsphasen ausgerüstet sind, auf positive Wachstumszahlen hinzuweisen, wenn es sich um ein gespaltenes Wachstum handelt, das sie nicht stärkt. An dieser Stelle ist die Kritik an der Ampel zutreffend, dass sie nicht viel für Arbeitsmarktsicherheit, Infrastrukturgarantien und das bisschen an persönlichen Rücklagen tut, mit dem man Veränderungen deutlich gelassener entgegensehen kann.
Nötig wäre daher auch auf Bundesebene die Perspektive auf eine Regierungsbildung, die ohne lagerübergreifende Blockade auskommt. Das wäre, beim derzeitigen Zustand aller drei Parteien links der Mitte und der ähnlich gelagerten Schwäche der sozialen Bewegungen, alles andere als eine Erfolgsgarantie. Aber es wäre eine Chance. Es spricht alles dafür, dass durch vier Jahre Groko, Jamaika oder Ampel II die Bedingungen, der Rechten die Hegemonie wieder abzunehmen, eher nicht besser werden.
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