Ein Zug nach Nirgendwo

Sahra Wagenknecht gründet eine Partei. Was für eine Partei wird das? Und wie geht man damit um?

Christoph Spehr

Die Entscheidung ist gefallen: Der Zug fährt ab. Am 23. Oktober ist Sahra Wagenknecht aus der LINKEN ausgetreten und hat auf einer Pressekonferenz bekanntgegeben, dass sie eine eigene Partei gründen wird – die BSW, das „Bündnis Sahra Wagenknecht“, wie die Partei bis auf weiteres heißen wird. Wahlantritte sind für die Europawahl und die Landtagswahlen 2024 geplant, also Sachsen, Thüringen und eventuell Brandenburg, alle im September 2024.

Damit endet ein langjähriges Trennungsdrama in der LINKEN. Es war ein bisschen so wie bei Christian Anders in „Es fährt ein Zug nach Nirgendwo“: Ein untreuer Partner steht ewig lang in der offenen Zugtür und wartet ebenso vorwurfsvoll wie vergeblich darauf, dass seine Freundin ihn zurückholt („Oh Maria, du lässt mich gehn“). Jetzt ist die Tür zu, und der Zug setzt sich in Bewegung.

Die Trennung begann 2016 mit der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Aufnahme von Schutzsuchenden in Deutschland, in der sich Wagenknecht offensiv migrationskritisch positionierte. Ein als „Streitgespräch“ angesetztes Interview mit Wagenknecht und der damaligen AfD-Vorsitzenden Frauke Petry im Oktober 2016 wurde überwiegend so bewertet, dass es mehr Übereinstimmungen offenbarte als Streit.[1] Der Bruch mit der LINKEN wurde deutlich im Jahr 2018, mit der Flucht-Debatte auf dem Leipziger Parteitag und mit der Gründung von „Aufstehen“ im September 2018, damals schon begleitet von Umfragen zum Potenzial einer Sahra-Wagenknecht-Partei. Nach dem schnellen Scheitern von „Aufstehen“ im März 2019 und dem Rückzug Wagenknechts vom Fraktionsvorsitz im November 2019 wurde es etwas ruhiger. Im Sommer 2021 ging die Trennung dann auf die Zielgerade, als Wagenknecht, kurz vor der Bundestagswahl, ihr Buch „Die Selbstgerechten“ veröffentlichte, in dem sie eine Generalabrechnung mit dem „Linksliberalismus“ und der LINKEN vorlegte, denen sie beiden vorwarf, sich für die soziale Frage nicht mehr zu interessieren. In einer Kampfabstimmung konnte sich Wagenknecht mit 61% auf Platz 1 der Landesliste NRW durchsetzen[2] und zog erneut in den Bundestag ein.

Wagenknechts impfskeptische Position in der Corona-Pandemie und ihre auf die Kritik an der NATO und an den Sanktionen fokussierte Haltung im Ukraine-Krieg vertieften die Differenzen. Im März 2023 erklärte Wagenknecht, bei der nächsten Bundestagswahl nicht wieder für die LINKE kandidieren zu wollen, und sprach davon, es könne sich ja „etwas Neues ergeben“.[3] Im Juli 2023 erklärte Klaus Ernst, wenn mit Sahra Wagenknecht eine neue Partei entstünde, könne er sich „gut vorstellen, einer solchen Partei beizutreten“.[4] Im September 2023 stellte Wagenknecht erste Programmpunkte in einer Vielzahl von Zeitungsinterviews und Talkshows vor[5], verbunden mit der Wendung, wenn man etwas kaputtmache, dass müsse man auch etwas Neues aufbauen.[6] Nachdem sie immer wieder angekündigt hatte, bis Ende des Jahres 2023 über die Gründung einer neuen Partei zu entscheiden, war es für viele überraschend, dass der Bruch doch schon am 23. Oktober vollzogen wurde.

Ob dieser Zeitpunkt freiwillig gewählt war, darüber lässt sich spekulieren. Es liegt in der Natur der Sache, den Zeitraum zwischen Abspaltung und dem ersten Antritt bei einer Wahl möglichst kurz zu halten, um vom medialen Hype profitieren zu können, bevor die Probleme auftreten; zuletzt hatte der Zeitplan daher eher auf den Januar hingedeutet. Der Druck aus der LINKEN, sich zu erklären, und die Ungeduld aus Wagenknechts Gründungsumfeld waren zuletzt allerdings so stark, dass ein weiteres Abwarten nicht mehr in Frage kam.[7]

Zu einer Spaltung der LINKEN kommt es erkennbar nicht. Es gibt keinen Landesverband und absehbar auch keinen größeren Kreisverband, der einer Abspaltung folgen würde. In Sachsen haben Anfang Juli sämtliche Abgeordnete (aus Bundestag, Landtag und Europaparlament) gemeinsam erklärt, auf jeden Fall Mitglied der LINKEN und der zugehörigen Fraktion zu bleiben.[8] In der Tendenz verzeichnet die LINKE seit der Pressekonferenz am 23.10.2023 mehr Eintritte als Austritte.[9] Neben den 10 Bundestagsabgeordneten, die jetzt aus der LINKEN ausgetreten sind, kam es in den Landtagsfraktionen bislang nur zu vereinzelten Ankündigungen von Übertritten, etwa die Landtagsabgeordneten Alexander King (Berlin) und Metin Kaya (Hamburg). Viele Anhänger*innen von Wagenknecht sind längst aus der LINKEN ausgetreten oder haben sich in Zusammenhängen wie dem „Was-tun-Netzwerk“ oder den „Karl-Liebknecht-Kreisen“ organisiert. Allerdings gibt es bisher auch keinen Aufruf von Wagenknecht zu Austritten aus der LINKEN, da der Verein BSW zunächst Spenden sammeln will und keine Mitglieder.

Damit stellen sich neue Fragen. Was wird der Charakter der neuen Partei sein, die jetzt gegründet wird? Welche Wirkung auf die politische Landschaft wird sie haben? Und wie ist damit umzugehen?

Wo der Graben liegt

Diese Einschätzung muss sich weitgehend auf das gründen, was von Wagenknecht selbst und den Bundestagsabgeordneten, die mit ihr aus der LINKEN ausgetreten sind (u.a. Klaus Ernst, Sevim Dagdelen und Amira Mohamed Ali) öffentlich programmatisch vertreten wurde. Seit der Pressekonferenz liegt auch eine Art Gründungspapier vor, das aus einer Präambel und den Teilen „Wirtschaftliche Vernunft“, „Soziale Gerechtigkeit“, „Frieden“ und „Freiheit“ besteht.[10]

Die Trennung war unvermeidlich geworden, da wesentliche Kernpositionen derer, die sich jetzt abspalten, mit der heutigen LINKEN unvereinbar sind. Es sind drei: Das Selbstverständnis innerhalb des Parteienspektrums (was sich insbesondere am Umgang mit der AfD konkretisiert); die geopolitische Zielsetzung (die sich in der Haltung zu Russland konkretisiert); und die Art der politischen Auseinandersetzung (was sich auf die Bedeutung von Solidarität zuspitzt). Sie sind auch im jetzt vorgelegten „Gründungspapier“ enthalten, auch wenn dieses relativ allgemein gehalten ist und diese Punkte aus taktischen Gründen nicht an den Anfang stellt.

Auf welcher Seite man steht

Die überwiegende Mehrheit der LINKEN-Mitglieder versteht die Partei als linken Pol in einem von links nach rechts geordneten Parteienspektrum, in dem sich Grüne und SPD als Mitte-Links-Parteien, CDU/CSU und FDP als Mitte-Rechs-Parteien anschließen und die AfD den extremen Pol auf der politischen Rechten markiert. Die machtpolitische Durchsetzungsstrategie der LINKEN hat daher zwei Seiten. Zum einen übt sie Druck von links auf die Positionierung von Grünen und SPD aus, geht aber auch Kooperationen mit ihnen ein, wenn das inhaltlich möglich ist. Zum anderen macht sie Druck auf CDU und FDP, jegliche inhaltliche und praktische Kooperation mit der AfD zu unterlassen. Beides gilt auf allen Feldern des „strategischen Dreiecks“: im Bereich von Bewegung und Protest; im parlamentarischen und exekutiven Raum; im Bereich der gesellschaftlichen Debatte.

Die Anhänger der BSW lehnen diese Selbstverortung ab. Sie sehen eine primäre Spaltung anderer Art. Auf der einen Seite stehen die „Elite-Parteien“, d.h. die Parteien, welche die Interessen politischer, kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Eliten vertreten, wozu in gleicher Weise Grüne, SPD, CDU und FDP gezählt werden (und die LINKE in ihrer heutigen Form). Als extreme Ausprägung dieser Elite-Parteien gelten der BSW die Grünen. Auf der anderen Seite stehen Parteien, die sich für die „große Mehrheit“ derjenigen einsetzen, die „nicht aus wohlhabenden Familien kommen“, „keine urbanen Besserverdiener sind“ und sich nicht in einer „privilegierten Position“ sehen. Diese Seite sei derzeit nur von der AfD besetzt, zu der die neue Partei eine „seriöse Alternative“ anbieten will.

Was genau mit einer „seriösen Alternative“ zur AfD gemeint ist, bleibt unscharf. Die plausibelste Deutung ist: Eine Partei, die ein ähnliches Politikangebot macht wie die AfD, aber ohne offenen Rassismus, ohne Verherrlichung der NS-Zeit und ohne Rechtsextreme und Neonazis in den eigenen Reihen. Zu dem von der AfD unlängst vorgestellten Sofortprogramm „10 Punkte für Deutschland“[11] dürfte es von Wagenknecht kaum Widerspruch geben.[12] Wagenknecht selbst sieht nicht die Forderungen der AfD für problematisch an, sondern die personelle Besetzung: „Was die AfD so problematisch macht, ist, dass sie echte Nazis in ihren Reihen hat. Die wählt man mit, wenn man diese Partei wählt.“[13]

Angriffe auf die AfD sucht man bei Wagenknecht und den Abspaltungs-Befürworter*innen vergebens.[14] Kritik an der AfD wird regelmäßig abgewehrt mit der immergleichen Wendung, das sei „Wählerschelte“, nutze nur der AfD, und man solle sich lieber damit beschäftigen, was man selber politisch falsch mache. Für eine Strategie, „auf die AfD einzuprügeln“, stehe man nicht zur Verfügung.[15]

Wie weit die Bereitschaft zur Verteidigung und Normalisierung der AfD geht, wurde anhand der Grunderwerbsteuersenkung in Thüringen deutlich, die CDU und FDP gemeinsam mit der AfD im Landtag durchgestimmt hatten. Amira Mohamed Ali, damals noch Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Bundestag, sah hier ein „ganz normales parlamentarisches Vorgehen“.[16] Sahra Wagenknecht schloss sich dem auf einer Veranstaltung in Jena kurz darauf an.[17]

Dem lässt sich entnehmen, dass die BSW pragmatisch auf aktive Anti-Regierungs-Mehrheiten zusammen mit der AfD setzen würde, wo sich die Möglichkeit bietet. Umgekehrt hat Wagenknecht deutlich betont, dass die BSW regieren will. Welche Regierungskoalitionen das sein sollten, bleibt unklar. Wagenknecht hat dementiert, dass die BSW aktuell Bündnisse mit der CDU anstrebe; Merz sei ebenso wenig koalitionsfähig wie „die heutigen Protagonisten der Grünen“.[18] Grundsätzlich besteht hier aber durch die grundsätzlich andere Auffassung der BSW von der Struktur des Parteienspektrums eine große Flexibilität: Das als prioritär ausgegebene Ziel, die Ampel zu „stoppen“, macht jedenfalls die CDU und die AfD – in unterschiedlichen Rollen – zu natürlichen Bündnispartnern. Demgegenüber ist für die LINKE prioritär, die politische und gesellschaftliche Rechtsverschiebung zu stoppen und umzukehren, wofür Kooperationen – bei allen Schwierigkeiten – primär mit SPD und Grünen gesucht werden müssen.

Prorussische Geopolitik

Unüberbrückbar wurde der Gegensatz auch bei der geopolitischen Orientierung, dem Verständnis internationaler Konflikte. Die Anhänger*innen der BSW sind hier festgelegt auf die Position, Deutschland müsse den Schulterschluss mit Russland suchen und die außenpolitische Zusammenarbeit mit den USA aufkündigen. Das ist der harte Kern dessen, was von dieser Seite als „konsequente Friedenspolitik“ bezeichnet wird.[19] Aus der Polarität zwischen den USA, die als singulärer Hauptfeind von Frieden und Entwicklung gilt, und Russland, für dessen Positionen aktiv geworben wird, leitet sich die Haltung zu allen anderen internationalen Fragen ab: Die Position im Ukraine-Krieg (sofortiger Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine, Ausstieg Deutschlands aus den Russland-Sanktionen), die positive Haltung zu China, die Sympathie für den antiwestlichen und prorussischen Militärputsch im Niger, die Behauptung es gäbe eine intakte Blockbildung „der Westen (…) gegen den Rest der Welt“.[20] Neutralität ist hier kein Wert an sich, sondern gilt nur als friedenspolitische Position, wenn und insofern es den Handlungsspielraum Russlands erweitert.[21] Die politische Bindung an Russland ist der zentrale Wert und durch reale Ereignisse nicht erschütterbar.

Für die allermeisten in der LINKEN ist eine solche Haltung inakzeptabel, weil sie anti-moralisch ist und die Interessen anderer Staaten, die unter dem Druck der russischen Geopolitik stehen, ausblendet. Das betrifft z.B. die Staaten, die sich mit der unmittelbaren Ausdehnung der russischen Einflusssphäre konfrontiert sehen: die Ukraine, Moldawien, Georgien, die osteuropäischen und baltischen Staaten; die afrikanischen Staaten, wo die russische Wagner-Truppe Länder destabilisiert oder Militärdiktaturen stützt; aber auch die pazifischen Inselstaaten und die Vielzahl von ärmeren Entwicklungsländern weltweit, die existenziell auf Fortschritte bei globalen Klima- und Umweltabkommen angewiesen sind, während Russland auf eine harte, fossil-egoistische Linie setzt.

Man erinnert sich in der Linken nur zu gut an die katastrophalen Fehleinschätzungen, die in sozialistischen Parteien und Organisationen aus einer allein auf Kritik der USA ausgerichteten Weltsicht entstanden (vom Stalinismus und dem sowjetischen Einmarsch in Ungarn und der CSSR bis zum Pol-Pot-Regime und zu Tiananmen). Unübersehbar ist auch die Nähe zur instrumentellen Friedenspolitik der DKP, der es nicht um Frieden ging, sondern um die bedingungslose Unterstützung der außenpolitischen Interessen des sowjetischen Lagers. Jetzt wird ein globales anti-westliches Lager konstruiert, in dem Russland als offensivster Widersacher des Westens agiert, wofür Verstöße gegen das Völkerrecht bis zum Angriffskrieg dann relativiert werden. Dass Russland unter Putin praktisch allem widerspricht, was einer linken Gesellschaftsutopie wichtig ist, spielt dabei ebenso wenig eine Rolle wie die Tatsache, dass die meisten Länder des globalen Südens stark darauf bedacht sind, den Druck zurückzuweisen, sich einem pro- oder contra-westlichen Lager zuzuordnen, und aus dieser offenen Position Handlungsspielräume und Verhandlungsmacht gewinnen. Auch von einem prinzipiellen Antiamerikanismus, mit seiner Nähe zu rechten Positionen und Verschwörungstheorien, hat die LINKE sich mehrheitlich in den letzten Jahren weitgehend freigeschwommen.  

Das heißt nicht, dass die Haltung zu Waffenlieferungen und Sanktionen nicht weiter in der Partei umstritten wäre. Die bei den Grünen weit verbreitete Erzählung vom angeblich notwendigen Sieg eines westlich-demokratischen Lagers gegen ein autoritäres Lager kann auch weiterhin keine linke Erzählung sein. Aber die Orientierung am Völkerrecht als historische Errungenschaft wird in der Linken mehrheitlich nicht in Frage gestellt. Das Prinzip, dass Angriffskriege nicht relativiert und verteidigt werden dürfen, ist ein Grundwert, von dem nicht abgewichen wird. Eine zynische Interessenpolitik, die über Angriffskriege hinwegsieht, um wieder billiges Gas zu kaufen, kommt für die Linke nicht in Betracht. Die Ausführungen Wagenknechts im Bundestag, die Bundesregierung breche „einen beispiellosen Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Energielieferanten vom Zaun“ und „wenn wir ein Industrieland bleiben wollen, dann brauchen wir russische Rohstoffe“[22], oder die wiederholte Forderung von Klaus Ernst nach einer Wiederinbetriebnahme von Nord Stream, haben daher besonders starke Ablehnung aus der LINKEN erfahren.

Entgrenzte politische Auseinandersetzung

Der dritte Punkt, an dem die Positionen unversöhnbar geworden sind, betrifft die politische Wahl der Waffen, d.h. den Stil der politischen Auseinandersetzung. Es ist die Frage, was in populistischen Zuspitzungen erlaubt und was für die Linke dabei ausgeschlossen ist. Die Anhänger der Abspaltung setzen strategisch darauf, gesellschaftliche Auseinandersetzungen durch Polarisierung, Personalisierung und Kulturalisierung zuzuspitzen und hauptsächlich mit Schuldzuweisungen zu arbeiten. Zur Taktik des kalkulierten Tabubruchs gehört auf der einen Seite der gehässige und beleidigende Umgang mit den Parteien links der Mitte (LINKE, Grüne, SPD), mit sozialen Bewegungen (Klimabewegung, Fluchtsolidarität) und mit nicht-traditionellen Milieus (Studierende, urbane Milieus, Queerszene). Zum anderen gehört dazu das systematische Aufgreifen von rechtspopulistischen Positionen mit großer medialer Resonanz (Begrenzung von Zuwanderung, Infragestellen von Klima-Transformation, Ablehnung von Corona-Maßnahmen).

Die Form ist hier tatsächlich der Inhalt. Der konstante Faktor ist die Art der Wortwahl und der Anschuldigung, während die Inhalte wechseln. Dass die Vertreter*innen der Bundesregierung persönlich „dumm“ und „feige“ sind[23]; dass es sich bei der Mehrheit der LINKEN-Mitglieder um „eine große Truppe politikunfähiger Clowns“ handele, deren „Kontakt zur Arbeit sich darauf beschränkt, dass sie mal als Schüler oder Student ein Regal bei Aldi eingeräumt haben“[24]; dass Aktivist*innen der Klimabewegung, der LGBTQ+-Bewegung oder der Fluchtsolidarität grundsätzlich „großstädtische Studenten und Akademiker“ sind, „denen es materiell oft ganz gut geht oder die zumindest über einen familiären Background verfügen, der Sicherheit gibt“, und dass diese Aktivist*innen mit „Kälte und Mangel an Mitgefühl“ gegenüber weniger Privilegierten deren „Ängste abgebügelt haben“[25]: Das ist die zentrale Botschaft, der gegenüber die wechselnden Begründungen zweitrangig sind.

Die politischen Inhalte sind fluide und werden opportunistisch gewählt. Das Thema „Deindustrialisierung“ kam unlängst neu hinzu. Bei der Agitation gegen Zuwanderung werden angesichts des omnipräsenten Fachkräftemangels ausländische Fachkräfte zunehmend akzeptiert. Die Klimaskepsis wird weniger grundsätzlich, da die Haltung von Belegschaften und Unternehmen in der Industrie sich gewandelt hat und sie jetzt staatliche Unterstützung und Richtungsentscheidungen bei der Transformation fordern. Wenn es um vermeintliche Cancel Culture geht, werden plötzlich Uni-Professoren als Opfer ins Feld geführt, was mit der behaupteten Rolle als Vertretung von Arbeiter*innen und Niedrigverdienenden wenig zu tun hat.[26] Entscheidend ist, dass immer dieselbe Rückführung auf die Kernbotschaften erfolgt: Alle Parteien links der Mitte sind dumm und unfähig; alle nicht-traditionellen Milieus sind naiv, privilegiert oder Kollaborateure; Kritik an der AfD muss unterbleiben, denn die Wähler*innen der AfD haben größtenteils recht. Diese Kernbotschaften sind mit linken Grundprinzipien logischerweise unvereinbar.

Es ist wichtig, diesen Punkt genau zu verstehen, weil er das Argument des Diskussionsverbots entkräftet. Es ist keineswegs so, dass man in der LINKEN nicht kontrovers diskutieren und mit guten Argumenten Positionen verändern kann, auch bei schwierigen Themen wie Migration, Außenpolitik und Konflikten zwischen langfristigen Zielen und kurzfristigen Effekten. Aber darum ging es nie. Das Interesse von Wagenknecht und ihrem Umfeld galt immer der Haltung und dem Sound, einer Sprechposition der Abwertung von Gegenpositionen, die karikaturhaft übersteigert werden. Es ging nicht um eine bessere Position der Partei zu Migration, Coronapolitik, Geopolitik, Klima-Umbau, sondern um die gewollte Tabu-Überschreitung, um Stimmung zu machen, indem man Stimmungen aufgreift; nicht um Argumente, sondern um die nächste Möglichkeit, jemanden für dumm und korrumpiert zu erklären.

Darum mussten auch alle Versuche, sich auf irgendwelche Korridore oder gemeinsam verfassten Papiere zu einigen, scheitern: Wenn es nicht mehr polarisiert, provoziert und abwertet, ist es nicht mehr interessant. Hier schließt sich ausnahmsweise der Kreis zu den Zeiten, als Wagenknecht innerparteilich noch von links polemisierte. Aus der traumwandlerischen Sicherheit, mit Moralisierung, Überzeichnung und Unterstellung Saalmehrheiten zu gewinnen, ist heute die methodische Sucht geworden, mit denselben Instrumenten populistische Zustimmung und Reichweite auf sozialen Medien zu produzieren. Die LINKE konnte sich gegenüber Wagenknecht und ihren wechselnden Umfeldern immer nur entscheiden, diese Art der Politik, bei der die vorwurfsvolle Haltung wichtiger ist als der Inhalt, zu akzeptieren und zu übernehmen, oder selbst damit überzogen zu werden.

Das Ziel: Ein modernes rechtspopulistisches Projekt

Ebenso wichtig ist es, genau zu verstehen, dass es sich bei der BSW um ein rechtspopulistisches Projekt handeln wird, nicht um irgendeinen Hybrid zwischen Links- und Rechtspopulismus. Es wird – wenn der Parteiaufbau tatsächlich gelingt – ein moderneres, moderateres Projekt sein als die AfD: eines, das sich von Rechtsextremismus und offenem Rassismus distanziert. Aber es wird rechtspopulistisch sein.

Die beste und einfachste Erklärung des Unterschieds zwischen Links- und Rechtspopulismus ist die von John Judis („The Populist Explosion“). Linkspopulismus geht aus vom Gegensatz zwischen Elite/Establishment und breiter Bevölkerung (‚the people‘). Rechtspopulismus tut das ebenfalls, aber er braucht immer ein drittes Element, von dem die eigentliche Bedrohung ausgeht. Linkspopulismus klagt die Elite an, sich nicht um ‚das Volk‘ zu kümmern. Rechtspopulismus wirft der Elite vor, sich nicht um ‚das Volk‘ zu kümmern, weil sie sich zu viel um andere kümmert.[27]

Diese ‚Anderen‘ sind typischerweise vulnerable soziale Gruppen, denen eine untergeordnete Position gegenüber ‚dem Volk‘ zugewiesen wird, die sich aber (eingebildet oder tatsächlich) nicht an diese Position halten, sondern sich ‚übergriffig‘ verhalten und diszipliniert werden müssen. Das konnten in den 1960ern Feministinnen sein und Studentenbewegung, oder heute Klimabewegte und urbane Milieus, aber Zugewanderte spielen immer eine herausgehobene Rolle. 

Die Vision des Rechtspopulismus ist eine Vision der Ungleichheit und der Wiederherstellung der gesellschaftlichen Hierarchie: Elite und ‚Volk‘ versöhnen sich wieder, indem die Elite sich von der ungerechtfertigterweise gehätschelten Gruppe abwendet und ihr gemeinsam mit dem ‚Volk‘ wieder zeigt, wo ihr Platz ist. Die Vision des Linkspopulismus ist eine Vision der Gleichheit und der Überwindung von Hierarchien: die Spaltung in Elite und ‚Volk‘ wird aufgehoben, Eliten werden abgeschafft, zumindest deren außerordentliche gesellschaftliche Macht. Auf einer praktischen Ebene macht sich der Unterschied zwischen Links- und Rechtspopulismus daran fest, ob Solidarität der zentrale Wert ist oder nicht.[28]

Entlang dieser Unterscheidung ist klar, welches Profil Wagenknecht für die BSW sucht und systematisch aufbaut. Dass sich in den programmatischen Aussagen auch solche finden, die den Wohlfahrtsstaat verteidigen und eine Machtbegrenzung oder gar Entflechtung für „marktbeherrschende Großunternehmen, übermächtige Finanzkonzerne wie Blackrock und übergriffige Digitalmonopolisten wie Amazon, Alphabet, Facebook, Microsoft und Apple“ fordern[29], ändert daran nichts.

Man hat in Deutschland nur keine Erfahrung damit. Die Behauptung, man stehe jenseits von Links und Rechts, gehört zum klassischen Repertoire rechtspopulistischer Parteien. „Ni droite ni gauche – français!“ war seit langem eine gängige Selbstbeschreibung des Front National. Die Formel erlangte neue Bedeutung im Rahmen von Marine Le Pens Strategie der „Entdämonisierung“ („Dédiabolisation“) des FN, die sie als Vorsitzende ab 2011 verfolgte.[30] Dazu gehörten u.a. die Distanzierung von offenem Antisemitismus und Rassismus; das Herausdrängen der neofaschistischen Gründergeneration (was 2015 im Parteiausschluss ihres Amtsvorgängers und Vaters Jean-Marie Le Pen gipfelte); die Umbenennung der Partei in „Rassemblement National“ (RN) 2018; die stärkere Öffnung für weibliche Mitglieder und Wählerinnen[31]; und ein sozial- und wirtschaftspolitisches Programm, das soziale Errungenschaften wie die 35-Tage-Woche, den Mindestlohn und das Rentenalter verteidigt sowie verstärkte staatliche Eingriffe in die Wirtschaft fordert.[32]

Das Entscheidende ist, dass die sozial- und wirtschaftspolitischen Positionen des RN sich in seine Gesamtorientierung einfügen. Der Wohlfahrtsstaat könne nur verteidigt werden, wenn die Zuwanderung radikal begrenzt werde; der ökonomische Nationalismus ist Teil der nationalistischen Forderung, sich um die Franzosen zu kümmern und nicht um den Rest der Welt; die liberalere Haltung zur Abtreibung und zu Frauenrechten ordnet sich in den anti-islamischen und zuwanderungsfeindlichen Kulturkampf ein. Die Agitation des RN fokussiert weiterhin auf die Themen Zuwanderungsbegrenzung und Nativismus, d.h. die rechtliche und soziale Schlechterstellung von Franzosen ohne „französische Abstammung“.

Marine Le Pen ist auf dem Weg der Modernisierung des Rechtspopulismus weiter gegangen als die meisten rechtspopulistischen Parteien in Europa. Aber die bessere soziale Absicherung derjenigen, die als die „Fleißigen“ und „Normalen“ klassifiziert werden, und das Zurückdrängen von Globalisierung auch mit wirtschaftspolitischen Mitteln des Nationalstaats, haben inzwischen alle im Programm. Das gilt für die Fratelli d’Italia unter Georgia Meloni genauso wie für die FPÖ[33] oder die polnische PIS.[34]

Spezifisch ist allenfalls, dass Wagenknecht einen bestimmten Anteil linker Rhetorik bedient. Traditionell links besetzte Begrifflichkeiten wie Revolution, Kapitalismus und Neoliberalismus aufzugreifen, um eine im Kern antiliberale, antipluralistische und nationalchauvinistische Gesellschaft zu propagieren, ist allerdings ebenfalls keine Erfindung von Sahra Wagenknecht, sondern der Neuen Rechten.[35] Das große Interesse, dass dem Projekt SWP von dieser Seite entgegengebracht wird[36], ist kein Zufall.[37]

Auch die Zielgruppenorientierung spricht eine klare Sprache. Der Linkspopulismus von Bernie Sanders, von Podemos oder Syriza ist nicht nur ein inklusiver Populismus, der sich vom Rechtspopulismus maßgeblich in der Haltung zu Migration, Diversität und Zukunftsfragen unterscheidet. Er sucht die Nähe zu genau den Bewegungen und Strömungen, von denen sich die Wagenknecht-Gruppe konfrontativ abgrenzt, und vertritt daher einen prinzipiell feministisch aufgeschlossenen und jugendorientierten Ansatz.[38] Ein Kulturkampf, der die gesellschaftlichen Modernisierungen zurückdrehen will und eine Art Revanche für 1968 sucht, ist nicht Bestandteil von linkspopulistischen Bewegungen, ebenso wenig die konsequente Normalisierung rechter bis rechtsextremer Kräfte und Themen. Die BSW wird daher eine rechtspopulistische Partei sein

Die Leerstellen in der sozioökonomischen Programmatik

Zu den häufig vorgetragenen Stereotypen der Abspaltungs-Anhänger*innen gehört der Vorwurf, die LINKE habe sich von der Interessensvertretung für die breite Masse der Arbeitnehmer*innen und der Menschen und Familien mit niedrigen und mittleren Einkommen entfernt. Belegt wird diese Behauptung ausschließlich damit, dass die LINKE sich für Klimaschutz, Minderheitenrechte und eine humanitäre Fluchtpolitik einsetzt. Die Agitation besteht aus der Kritik an linken Forderungen zu den genannten Themen, nicht aus einem alternativen wirtschaftspolitischen, arbeitsmarktpolitischen oder sozialpolitischen Programm. Ein eigenes Profil sozioökonomischer Positionen und Forderungen der Wagenknecht-Gruppe ist nicht wahrnehmbar.

Diese Haltung des Ungefähren und Unerklärten ist kein Zufall, sondern Methode. Widerstreitende Interessen z.B. zwischen kleineren und mittleren Betrieben und ihren teilweise prekär entlohnten Beschäftigten werden ebenso ausgeklammert wie die Fragen, welche Unternehmen zum Gegenstand aktiver Standortsicherung gemacht werden sollen und welche nicht, wie der Industriestrompreis genau aussehen soll, ob hohe Subventionen für die Ansiedlung von Chip- bzw. Wafer-Fabriken richtig sind oder falsch. Systematisch vermieden wird jede Positionierung zur Rolle der Gewerkschaften, da sich dies sprengend auf das angestrebte Empörungsbündnis auswirken würde.

Man muss bis zu Wagenknechts Buch „Die Selbstgerechten“ zurückgehen, um eine Darstellung eines eigenen Programms zu finden, das wenigstens etwas konkreter im sozioökonomischen Bereich ist. Hier finden sich einige Forderungen, die sich von der Programmatik von SPD, Grünen und LINKE nicht unterscheiden, etwa die nach einem Ausbau des öffentlichen Sektors insbesondere im Bereich der Daseinsvorsorge, mehr arbeitsmarktlicher Regulierung, stärkerer Monopolkontrolle (Kapitel 10), sowie einer Steigerung der Bildungsinvestitionen (Kapitel 11). Dazu kommen einige Vorschläge, die wenig durchdacht sind und in der Praxis negative Konsequenzen hätten: Das „Leistungseigentum“, das faktisch ein Verbot von Unternehmensbeteiligungen meint (Kapitel 11); das vollständige gesetzliche Verbot jedweder Speicherung personenbezogener Daten und der Aufbau eigener europäischer Alternativen für alle digitalen Plattformen (Kapitel 12); ein öffentlicher Schuldenschnitt mit einem anschließenden weitgehenden Verzicht auf staatliche Schuldenaufnahme (Kapitel 11).

Der Kern der wirtschaftspolitischen Vision ist der Ausstieg aus dem Euro und die faktische Zerschlagung der EU. Gefordert wird eine „Re-Organisation der Währungsbeziehungen, die Abwertungen wieder ermöglicht“ (S.310), eine Entmachtung von EU-Parlament und EU-Kommission zugunsten des Europäischen Rates (also der Vertretung der Regierungen) sowie ein Verbot jeglicher europäischer Mehrheitsentscheidungen und jeglicher Bindewirkung europäischer Entscheidungen für die Nationalstaaten (S. 244f.). Geschwächt werden soll gleichzeitig die Rolle des nationalen Parlaments und der Parteien, durch nationale Volksentscheide nach dem Vorbild der Schweiz und ein Zweikammersystem mit einer nach dem Losverfahren zusammengesetzten zweiten Kammer (S. 266f.).

Man kann daher davon ausgehen, dass in der sozioökonomischen Programmatik der Abspaltungs-Gruppierung auch weiterhin alle kritischen Fragen offenbleiben werden: Wie die geforderten höheren Löhne bewirkt werden; wie die geforderten höheren Staatsausgaben finanziert werden; wie das Spannungsverhältnis zwischen Protektionismus und Exportorientierung gelöst wird; woher ein auf die Ebene von Nationalstaaten zurückgeworfenes Europa das geforderte Mehr an Durchsetzungsmacht gegenüber Konzernen gewinnen und wie sich ein innovativer High-Tech-Kapitalismus (S. 280) mit Re-Nationalisierung und staatlicher Verschuldungsbremse vertragen soll. Seit der Pressekonferenz vom 23. Oktober sind die Verlautbarungen nochmals wolkiger geworden. Die BSW versucht erkennbar, sich möglichst vage zu äußern, um keine potenziellen Wähler*innen oder Unterstützer*innen zu verprellen.

Wer sich von der BSW eine Linkskorrektur gegenüber „den auf Anpassung und Integration zielenden Strömungen und Zusammenschlüssen in der Partei“[39] erhofft, ist jedenfalls erkennbar auf dem falschen Dampfer. Die BSW wird als Lösung ausgeben, eine Entmachtung von Eliten und Establishment und ein harscher Kurs gegen Migration, Klimabewegung und Genderpluralismus würden schon automatisch eine Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Lage bewirken.  

Quer zum Parteiensystem?

Neben der These vom Verrat der LINKEN an den sozialen Interessen wird keine These so häufig von Abspaltungs-Anhänger*innen bemüht wie die, es gebe eine „Lücke im Parteiensystem“, die es zu füllen gelte. Ausgangspunkt ist das Zwei-Achsen-Konzept, das Parteien nach einer horizontalen, sozioökonomischen Achse (gesellschaftliche Regulierung von Kapital versus Marktfreiheit) und einer vertikalen, kulturellen Achse (liberale Gesellschaft versus autoritärer Staat) ordnet. Hier gebe es mit der AfD eine Partei, die den rechts-rechts-Quadranten füllt, aber keine Partei, die den links-rechts-Quadranten einnimmt, also progressive sozioökonomische Inhalte mit konservativ-autoritären kulturellen Positionen verbindet.

Wie ausgeführt, ist schon nicht ersichtlich, worin bei einem Projekt Konkurrenzgründung die linke Positionierung auf der sozioökonomischen Achse liegen soll. Vor allem aber lassen sich die beiden Achsen in der Praxis nicht dauerhaft entkoppeln. Die Empirie zeigt, dass sich Parteien auf längere Sicht entweder im links-links-Quadranten oder im rechts-rechts-Quadranten aufhalten[40] – mit unterschiedlicher Nähe zur Mitte, unterschiedlichen Akzenten und gelegentlichen Flirts zur Grenzüberschreitung.[41] Alle von Wagenknecht des „Linksliberalismus“ beschuldigten Parteien (SPD, Grüne, LINKE) sprechen sich im Zweifelsfall für mehr Markt- und Kapitalregulierung aus als die Parteien, die zum kulturell konservativ-autoritären Lager zählen (CDU, CSU, AfD). Auch der kulturelle Liberalismus der FDP hat, wo er nicht einfach ein Codewort für Marktfreiheit ist, klare Grenzen, wenn es nicht nur um Laissez-Faire geht, sondern um aktive Verwirklichung und rechtlich-materielle Absicherung entsprechender gesellschaftlicher Freiheiten. Das Maß einer progressiven Positionierung an der „kulturellen“ Achse ist die nachträglich ergänzte Formulierung in Artikel 3 (2): „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung (…) und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“, wozu dann auch positive Diskriminierung (affirmative action) gehört. Diese Linie markiert die Grenze zwischen Marktliberalen und Sozialliberalen, und damit die Grenze zwischen Rechts- und Linksliberalismus.

Die Verortung auf der sozio-ökonomischen und auf der kulturellen Achse verhalten sich deshalb nicht beliebig zueinander, sondern gehören zusammen. Im Kern geht es um den Umgang mit gesellschaftlicher Ungleichheit, die im rechten Teil des politischen Spektrums akzeptiert bzw. dem Handlungsfeld des Staates entzogen wird, während der linke Teil des politischen Spektrums ein aktives Vorgehen zur tatsächlichen Verringerung und Beseitigung von Ungleichheit fordert, das auch gezielte staatliche Maßnahmen und Reformen einschließt.[42]

Die Regierung Schröder oder der Wahlkampf der Demokraten unter Hillary Clinton können als der gescheiterte Versuch gelten, sich ins Niemandsland des „freien“ Quadranten kultureller Progressivität ohne Bekenntnis zu Markt- und Kapitalregulierung zu begeben. Nicht anders kann der Versuch enden, sich im Niemandsland des „freien“ Quadranten konservativ-autoritärer gesellschaftlicher Haltung und progressiver Markt- und Kapitalregulierung zu etablieren. Die „freien“ Quadranten sind kein Land der Verheißung, sondern Todeszonen einer konsistenten politischen Orientierung. Man überlebt dort nicht.

Die Lücke liegt rechts

Das weiß auch Wagenknecht. In den vielen Interviews und Fernsehauftritten der letzten Zeit hat sie den Bezug auf klassische linke Forderungen in Sozial- und Wirtschaftspolitik, auf Klassenverhältnisse, kompensatorische Eingriffe oder auf gesellschaftliche Planung, immer stärker gekappt. Ihre Antwort auf die Frage „Was bedeutet Linkssein für sie“ in der SZ: „Mich für diejenigen einzusetzen, die nicht aus wohlhabenden Familien kommen, für Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen. Und für eine Außenpolitik, die auf Frieden und Diplomatie setzt“, ist insofern entlarvend und als bewusster Abschied von jeder materialistischen Gesellschaftskritik gemeint. Wenn Wagenknecht auf die Nachfrage „Empfinden Sie sich selbst als links?“ antwortet: „An dem gemessen, was ich gerade gesagt habe, ja“, dann ist die Ansage klar: Mehr ist nicht drin.[43]

Wagenknecht ist geradezu nervös bemüht, sich von Zitaten und Berichten zu distanzieren, die ihr klassische linke Herangehensweisen an Wirtschaft und Gesellschaftsordnung zuschreiben.[44] An diesem Punkt wird deutlich, dass die Protagonisten der Abspaltung nicht Akteure, sondern Getriebene sind. Sie wissen, dass im Falle der Abspaltung für sie auf der Linken nicht viel zu holen ist, weder organisatorisch noch an Wähler*innen-Stimmen. Entscheidend ist, was an Anerkennung, Mobilisierung und Unterstützung von rechts kommt.

Das ergibt sich zum einen aus den Analysen möglicher Wähler*innen-Potentiale.[45] Zum anderen ergibt es sich aus dem Angewiesensein auf mediale Anerkennung. Auf dem rechten Spektrum werden hier bereits die Instrumente gezeigt, um die BSW auf den richtigen Kurs zu disziplinieren, etwa wenn im Focus „eine gerade Linie“ gezogen wird zwischen Wagenknechts Vergangenheit als „standfester Kommunistin“ und einem befürchteten Zuviel an staatlicher Regulierung und wirtschaftspolitischem Eingriff.[46] Die LINKE kann und muss für ihre Positionen Rote-Socken-Kampagnen und SED-Vorwürfe aushalten. Ein Projekt Wagenknecht kann es nicht.

Wagenknecht wird von den medialen Sympathisanten des Rechtspopulismus und von der rechtspopulistischen Konkurrenz so lange das Etikett „links“ zugestanden werden, wie es in die Strategie der Normalisierung rechtspopulistischer Inhalte passt, vorausgesetzt, sie vermeidet alles, um es zu füllen. Die AfD wird ihre social-media-Macht nicht sofort von „like“ auf „hate“ umstellen, was Wagenknecht anlangt, sondern erst einmal den Triumph auskosten, mit ihren Inhalten ins linke Lager eingebrochen zu sein. Der gesellschaftliche Effekt ist eine Aufwertung der AfD und der ihr verbundenen Kräfte und Stimmungen. Die BSW wird dazu beitragen, rechte Stimmungen zu verstärken, linke Ansätze zu delegitimieren, und gesellschaftliche und politische Mehrheiten links der Mitte zu erschweren.

Das heißt nicht, dass es für ein Projekt wie die BSW nicht eine Lücke im Parteienspektrum geben kann. Nur liegt sie nicht „unten“ oder „links wie rechts“, sondern zwischen CDU und AfD, dort, wo sich derzeit Parteien wie die Freien Wähler oder das Bündnis Deutschland zu etablieren suchen. Es ist der Platz einer modernisierten, moderateren rechtspopulistischen Partei, die sich ähnlich aufstellt wie Marine Le Pens RN: sozialpolitisch breiter und nicht offen vom Rechtsextremismus kontaminiert. Der Anspruch auf diesen Platz ist mit Wagenknechts Formel von der „seriösen“ oder „vernünftigen“ Alternative zur AfD gut beschrieben.

Ob dies gelingen wird, ist allerdings offen. Zum einen wäre die Voraussetzung, dass die BSW – anders als bei „Aufstehen“ – eine kritische Masse von Akteuren gewinnen, Strukturen aufbauen und eine Balance zwischen der charismatischen Spitzenpersönlichkeit und einem breiteren strategischen Zentrum herstellen kann. Bislang ist dies ausgesprochen fraglich. Zum anderen sind bislang alle Versuche, zwischen CDU und AfD eine „seriöse Alternative“ zu etablieren, gescheitert oder konnten nur regionale Relevanz erreichen. Die bisherige Erfahrung war, dass gerade das „Unseriöse“ wesentlich zur Wahl der AfD beiträgt. Dass Aiwangers Freie Wähler durch den Antisemitismus-Skandal noch weiter zulegen konnten, weist in dieselbe Richtung.

Dennoch muss man sich auf das mögliche Auftreten einer „seriösen Alternative“ vorbereiten, ob es nun die BSW sein wird, oder eine andere Kraft. Im Verhältniswahlsystem liegt die „gläserne Decke“[47] beim Zugang zur Regierungsmacht nicht notwendig in der Fähigkeit, Wahlkreise direkt mit Mehrheit zu gewinnen, sondern ebenso in der Fähigkeit, Mehrheitskoalitionen zu bilden. Hier würde es einer „seriösen Alternative“ zur AfD gelingen, die „Brandmauer“ zu überwinden, die neue Koalitionen rechts der Mitte im Fall der AfD bislang verhindert – so wie es Hubert Aiwanger in Bayern bereits vormacht. Die gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung mit dieser Option ist nicht rein wertemäßig oder über die Skandalisierung von Positionen und Äußerungen zu gewinnen – auch das zeigt Aiwanger.

Stattdessen wird es nötig sein, die gesellschaftlichen Konflikte, die vom Rechtspopulismus aufgegriffen werden, argumentativ zu behandeln und für positive, realistische Perspektiven und Handlungsoptionen zu werben. Es spricht viel dafür, dass die relative Stärke der dänischen Sozialdemokratie weniger in ihrer konkreten Positionierung zu Migrationsfragen liegt (die unstreitig rechtsoffen ist), sondern darin, dass sie wenigstens vermittelt, irgendeinen Plan zu haben.[48]

Diese Herausforderung von links anzunehmen und eine progressive Antwort in ein überzeugendes, realistisches und argumentativ untersetztes Zukunftskonzept einzubinden, wäre eine dringende Aufgabe. Die Stärke des Populismus hat ihre materielle Grundlage darin, dass in der Tat viele politische Kernfragen eine Antwort benötigen, die internationale Veränderungen, globale politische und wirtschaftliche Kräfteverhältnisse zugrunde legt und darauf ausgerichtete nationale und europäische Strategien formuliert.[49]

Wie konnte es so weit kommen?

Die Linke muss sich bei aller Erleichterung die Frage gefallen lassen, wie es so weit kommen konnte. Wie es möglich war, dass aus ihr heraus ein neues rechtspopulistisches Projekt heranwachsen konnte, das sich offen der politischen Gegenaufklärung verpflichtet hat, das um Zustimmung kämpft für die Normalisierung der AfD, Sympathien für Putin, für Ressentiments gegen Minderheiten und die gesellschaftliche und politische Linke. Das gilt für die gesellschaftliche und politische Linke insgesamt, aber für die Linkspartei im Besonderen.

Das hat nichts damit zu tun, dass es in der LINKEN (wie in der gesellschaftlichen Linken insgesamt) viele gibt, die mit Positionen der Partei in der Friedenspolitik hadern; oder die nicht unberechtigte Forderung erheben, endlich zu einer differenzierteren, aktiveren Migrationspolitik zu finden; oder zu viel Fundamentalismus in Klima- und Diversitätsfragen kritisieren – mal berechtigt, mal unberechtigt. All das ist Teil der normalen Diskussion und Positionsfindung.

Fragen lassen muss sich die Linkspartei dagegen, ob sie der Geburt einer rechtspopulistischen Abspaltung viel zu lange tatenlos zugesehen hat, und ob sie den unvermeidlichen Schritt, ihre Positionen nach der Gründungsphase neu zu sortieren, von der bloßen Kritik an der rot-grünen Enttäuschung 2002-2005 zu einer eigenen linken Perspektiverzählung überzugehen, aus Angst und Bequemlichkeit zu lange hinausgeschoben hat. Aber auch die, die auf Zeitgewinn gesetzt haben, haben ein starkes Argument. Die LINKE zeigt sich in der Situation der Abspaltung erfreulich resilient; der Massenexodus wird ausbleiben. Das wäre vor zwei Jahren möglicherweise noch anders gewesen.

Dass die Situation sich jetzt klärt, ist daher unbestreitbar eine Chance. Die nicht unmühsame Arbeit an einer Linken, die mehr Resilienz gegen rechte Verführung besitzt und deren progressive Erzählung auch realitätstauglich und populär sein kann, wird Zeit brauchen. Aber sie wird ein spannendes Projekt.


[1] FAZ 2.10.2016. Text auf: https://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/2432.streitgespr%C3%A4ch-zwischen-sahra-wagenknecht-und-frauke-petry.html. Kommentare:  https://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-10/afd-linke-frauke-petry-sahra-wagenknecht-interview/komplettansicht; https://taz.de/Interview-mit-Wagenknecht-und-Petry/!5340887/

[2] https://www.dielinke-nrw.de/partei/landesparteitage/lvv-1011042021/kandidaturen/detail-ticker-lvv-2021/wahlgang-listenplatz-1-laeuft/

[3] Rheinpfalz 3.03.2023, https://www.rheinpfalz.de/lokal/pfalz-ticker_artikel,-wagenknecht-tritt-nicht-mehr-f%C3%BCr-die-linke-an-_arid,5475400.html

[4] Abendzeitung, 17.7.2023, https://www.abendzeitung-muenchen.de/politik/gruendet-sahra-wagenknecht-eigene-partei-ex-linken-chef-kann-sich-beitritt-gut-vorstellen-art-915055

[5] Tagesspiegel 10.09.2023, BILD 9.09.2023, NZZ 10.09.2023, SZ 11.09.2023 und weitere.

[6] Sahra Wagenknecht bei Marcus Lanz, ZDF, 19.09.2023: „Wenn man etwas kaputt macht, dann sollte man das nur machen, wenn man schon weiß, dass man etwas Neues aufbauen kann.“

[7] Am 10.06.2023 fasste der Parteivorstand den Beschluss, in dem es hieß: „Die Zukunft der LINKEN ist eine Zukunft ohne Sahra Wagenknecht.“ Am 9.10.2023 stellten etwa 60 Mitglieder, darunter Bundestagsabgeordnete, Ministerinnen, Landes- und Fraktionsvorsitzende einen Ausschlussantrag gegen Sahra Wagenknecht. Am 8.10.2023 fasste der Parteivorstand einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit dem BSW-Verein. Zum Bundesparteitag am 17.-18.11.2023 liegen bereits Anträge vor, die sich zum Szenario der Konkurrenzgründung verhalten.

[8] „In Verantwortung und Solidarität für unsere Partei DIE LINKE“, 2.07.2023, https://www.dielinke-sachsen.de/2023/07/in-verantwortung-und-solidaritaet-fuer-unsere-partei-die-linke/  

[9] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-10/die-linke-sahra-wagenknecht-bewegung-partei-mitglieder;

[10] Gründungspapier: https://buendnis-sahra-wagenknecht.de/ueber-uns/

[11] https://afdbundestag.de/wp-content/uploads/2023/09/Sofortmassnahmen_AfD_Regierung_Positionspapier.pdf

[12] Wagenknecht, NZZ 10.09.2023; Sabine Zimmermann, Freie Presse Zwickau, 8.09.2023. Für den „Focus“ entwarf Ulrich Reitz eine Version der Unterscheidung, die im Wesentlichen darauf hinausläuft, dieselben Forderungen mit weniger irrationalen Begründungen zu erheben: Focus, 10.09.2023, https://www.focus.de/politik/deutschland/analyse-von-ulrich-reitz-nur-sahra-wagenknecht-kann-die-afd-jetzt-noch-stoppen_id_197555951.html

[13] Interview in BILD, 8.09.2017, https://www.bild.de/politik/inland/sahra-wagenknecht/arm-ist-wer-seinen-kindern-kein-eis-kaufen-kann-53150826.bild.html. Dieselbe Formulierung vom „Mitwählen“ gibt es im Interview mit der Südwestpresse, 11.07.023: „Der rechtsextreme Flügel, den man mitwählt, wenn man der AfD seine Stimme gibt, ist vielen nicht geheuer“, https://www.swp.de/politik/neue-partei-und-afd-konkurrenz_-sahra-wagenknecht_-_wollen-wir-wirklich-so-lange-weitermachen_-bis-es-knallt_-71137299.html

[14] Eine Ausnahme markiert Wagenknechts Seitenhieb auf die AfD, diese sei in der Corona-Politik anfangs für noch härtere Maßnahmen gewesen und habe ihre „Freiheitsliebe“ erst nachträglich entdeckt, als die Stimmung kippte, NZZ 10.09.2023. So darf man sich auch den politischen Wettbewerb einer Wagenknecht-Partei mit der AfD vorstellen: als ein Wetteifern darum, wer „Eliten“-Kritik und „Establishment“-Widerstand authentischer und glaubwürdiger ausdrückt.

[15] Sophie Barkey: Sahra Wagenknecht fordert einen anderen Umgang mit der AfD, Berliner Zeitung 9.09.2023, https://www.berliner-zeitung.de/news/linke-politikerin-sahra-wagenknecht-fordert-einen-anderen-umgang-mit-der-afd-li.387269

[16] Pressekonferenz der Bundestagsfraktion am 19.09.2023, dokumentiert in jw, 21.09.2023, https://www.jungewelt.de/artikel/459517.amira-mohamed-ali-cdu-vorgehen-in-th%C3%BCringen-kein-einrei%C3%9Fen-von-brandmauer.html

[17] https://www.rnd.de/politik/sahra-wagenknecht-mehrheiten-mit-afd-sind-unproblematisch-WIEZ2ES2FFDKBI3MDEOTV5LYJE.html

[18] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/sahra-wagenknecht-friedrich-merz-ist-nicht-koalitionsfaehig-a-38dc5755-af51-4175-b801-31784443ba6f  

[19] Formulierungen aus dem Gründungsmanifest von „Aufstehen“, die sich auch kritisch auf Russland anwenden lassen („Gewalt triumphiert über Völkerrecht“; „In den internationalen Beziehungen ersetzt das Faustrecht des militärisch Stärkeren immer öfter Verhandlungen und Diplomatie. Hemmungslos werden Kriege geführt, um …  geopolitische Einflusszonen auszuweiten“), würden sich in einem Gründungsaufruf für die Konkurrenzgründung heute so nicht mehr wiederfinden.

[20] Sevim Dagdelen, Vortrag an der Universität von Mauritius, Artikelversion, 11.04.2023, https://www.sevimdagdelen.de/westen-gegen-rest/

[21] Konsequenterweise fordert Sevim Dagdelen sie daher nur für Staaten innerhalb von EU und NATO: „Wer heute im Westen seine demokratische Souveränität verteidigen will, kann das allein mittels bedingungsloser Neutralität tun“. 10 Thesen, jw 5.09.2023, https://www.jungewelt.de/artikel/458347.haushaltsdebatte-im-bundestag-sozialabbau-und-aufr%C3%BCstung.html; ähnlich am 24.06.2023 auf einer Konferenz in Irland, https://www.sevimdagdelen.de/fuer-neutralitaet-und-frieden-statt-nato-und-krieg/

[22] Bundestag, Plenarprotokoll, 8.09.2022, S. 5429

[23] Wagenknecht, Bundestagsrede 8.09.2022, s. Plenarprotokoll

[24] Klaus Ernst, BR24 9.08.2023, https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/ex-parteichef-linke-voller-politikunfaehiger-clowns,TmMXprG

[25] Wagenknecht, Die Selbstgerechten, S. 33f.

[26] Wagenknecht bei Marcus Lanz, ZDF, 19.09.2023

[27] John Judis: The Populist Explosion, New York 2016, S. 15

[28] Ein exemplarischer Bruchpunkt war daher bereits 2018 Wagenknechts Entscheidung, dass „Aufstehen“ nicht zur „Unteilbar“-Demonstration aufrufen würde. https://www.tagesspiegel.de/politik/wagenknecht-hat-vorbehalte-gegen-die-unteilbar-demo-4605253.html

[29] Gründungspapier, a.a.O.

[30] https://www.lemonde.fr/idees/article/2022/06/08/histoire-d-une-notion-la-dediabolisation-ritournelle-de-l-extreme-droite_6129387_3232.html

[31] Der Frauenanteil bei den Mitgliedern lag 2017 bei 39%. Bei der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen 2023 schnitt Le Pen bei den Frauen nur unwesentlich schlechter ab als bei den Männern (41% zu 43%), https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-04/stichwahl-frankreich-emmanuel-macron-marine-le-pen-ergebnis-karte-interaktiv

[32] https://berlinpolicyjournal.com/la-dediabolisation/; https://www.bpb.de/themen/parteien/rechtspopulismus/245672/rassemblement-national/

[33] https://sozialismus.ch/international/2016/deutschland-die-afd-als-partei-der-kleinen-leute/

[34] In der konkreten außenpolitischen Orientierung gibt es dagegen kein verbindendes Muster rechtspopulistischer Parteien. Ihre außenpolitischen Haltungen (z.B. in der Haltung zu Russland oder der NATO) sind völlig unterschiedlich und spiegeln meist das, was in ihrem Land die dominante Haltung und Interessenlage ist oder war: Angelos Chryssogelos, Is there a populist foreign policy?, Chatham House, 2021, https://www.chathamhouse.org/2021/03/there-populist-foreign-policy

[35] Die Neue Rechte bemüht sich seit den 1970er Jahren darum, durch gezielte Anleihen bei linker Rhetorik und durch das Erschließen bislang links besetzter gesellschaftlicher Themen (wie z.B. der Friedenspolitik), der politischen Rechten die kulturelle Verhaftung in einer zu spießigen Selbstdarstellung und Selbstpräsentation zu nehmen, sie zu modernisieren und breiter gesellschaftlich anschlussfähig zu machen. „Im Kern geht es der extremen Rechten darum, unter Beibehaltung ihrer politischen Agenda rhetorische Brücken nach links zu bauen“, Marcel Hartwig: Links-Rechts-Crossover?, ak 21.03.2023, https://www.akweb.de/bewegung/querfront-debatte-sahra-wagenknecht-alice-schwarzer-links-rechts-crossover/

[36] Beispielhaft erwähnt sei die Titelstory von Compact im Dezember 2022: „Wagenknecht – Die beste Kanzlerin. Eine Kandidatin für Links und Rechts“,

[37] Wagenknecht hat für den späteren Namen ihrer neuen Partei bereits erklärt: „Labels wie ,links‘ werden darin nicht vorkommen, weil sie von vielen Menschen heute mit ganz anderen Inhalten verbunden werden (…) Wir gründen ja keine Linke 2.0.“ Focus 44/2023, S. 36; https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/warum-sahra-wagenknecht-ihre-neue-partei-nicht-links-nennen-will-19272234.html

[38] Die Möglichkeiten und Grenzen eines linkspopulistischen Politikansatzes sind hier nicht Thema; Fakt ist, dass er nichts mit dem geplanten Abspaltungsprojekt zu tun hat. Eine kritische und offene Auseinandersetzung mit den Erfahrungen, Grenzen, Vorbedingungen, Krisen und Transformationen linkspopulistischer Parteien und Bewegungen in Europa tut allerdings not.

[39] Nico Popp: Ein bisschen provozieren, jw 11.09.2023

[40] Frank Decker: Jenseits von links und rechts. Lassen sich Parteien noch klassifizieren?, bpb 2018, https://m.bpb.de/apuz/279819/lassen-sich-parteien-noch-klassifizieren

[41] Eine vergleichende Übersicht zu europäischen sozialdemokratischen Parteien und ihrer Positionierung im Quadranten-System haben z.B. André Krouwel und Yordan Kutiyski vorgelegt: Krouwel/Kutiyski, Europäische Sozialdemokratie im Vergleich. Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen 14 sozialdemokratischen Parteien, FES 2022, http://library.fes.de/pdf-files/iez/19481.pdf

[42] Decker schlägt deshalb ein gekipptes Achsensystem vor, wo die Achsen soziale Ungleichheit und kulturelle Ungleichheit nicht horizontal und vertikal verlaufen, sondern diagonal. Das bestreitet nicht die Spannungen zwischen den beiden Achsen, aber macht augenfällig, dass links „links“ ist und rechts „rechts“.

[43] SZ 11.09.2023

[44] Z.B. von der in BILD vom 9.09.2023 ihr zugeschriebenen Forderung nach staatlichen „Kontrollorganen“, die „überwachen, was Betriebe herstellen und was nicht“.

[45] Carsten Braband: Wo liegt das Potenzial einer Wagenknecht-Partei?, Jacobin, 9.06.2023, https://jacobin.de/artikel/wo-liegt-das-potenzial-einer-wagenknecht-partei-gruendung-linke-konservative-carsten-braband

[46] Oliver Stock: Lesen Sie mal, wie Wagenknecht Deutschland zu einem anderen Land machen würde, Focus 13.09.2023, https://www.focus.de/politik/deutschland/das-phaenomen-sahra-wagenknecht-so-koennte-ihr-parteiprogramm-aussehen_id_205276217.html

[47] Die Modernisierung des Front National zielte erklärtermaßen darauf ab, die „gläserne Decke“ zu durchbrechen, d.h. in Wahlkreisen stärkste Partei zu werden und dadurch Parlamentssitze zu gewinnen, bzw. bei Präsidentschaftswahlen die zweite Runde zu erreichen, wofür landesweit ein Ergebnis von ca. 25% in der ersten Runde erforderlich ist. Das Anknüpfen an die feministische Herkunft des Begriffs „gläserne Decke“ ist kein Zufall, sondern Bestandteil dieser Strategie. Marine Le Pen verwendete den Ausdruck „Wir haben die gläserne Decke durchbrochen“ („Nous avons brisé le plafond de verre“) 2012 im Wahlkampf für die zweite Runde der Parlamentswahlen.  https://www.rtl.fr/actu/politique/front-national-d-ou-vient-l-expression-plafond-de-verre-7780845767

[48] Felix Eikenberg und Sönke Hollenberg: Migration – Schicksalsfrage der Sozialdemokratie?, Frankfurter Hefte 4/2019, https://www.fes.de/themenportal-flucht-migration-integration/artikelseite-flucht-migration-integration/migration-schicksalsfrage-der-sozialdemokratie

[49] Dass in bestimmten historischen Phasen vielen „Welteroberungsträume oder die sittenreinigende Funktion einer vierten Eiszeit erheblich näherliegen als etwa Gedanken oder Pläne dazu, welchen Gebrauch die Menschen von der in den letzten 50 Jahren gigantisch gewordenen Industrie machen könnten oder sollten“ (Klaus Theweleit: Männerphantasien, Reinbek 1980, Band 2, S. 345), lässt sich eben nicht nur psychoanalytisch erklären, sondern auch damit, dass es einen erheblichen Mangel an solchen Plänen und Gedanken in der öffentlichen Debatte gibt, die ja von der progressiven Seite kommen müssten.

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